Eine Mehrheit gegen die Interessen Pankows: Erneute Ablehnung einer baurechtlichen Sicherung der Entwicklung auf dem Areal am ehemaligen Güterbahnhof Greifswalder Straße
Auf der 6. Tagung der BVV Pankow am 4. Mai 2022 wurde die Beschlussempfehlung des Bezirksamts über eine Veränderungssperre für den großen innerstädtischen Bereich im Osten des Thälmann-Parks im Rahmen der Konsensliste überraschend abgelehnt. Da dieser Beschluss zustande kam, ohne dass das Bezirksamt über die Bedeutung der Vorlage sprechen konnte und auch ohne dass die Gegner*innen über ihre Gründe Auskunft gaben, war zu begrüßen, dass die Sondersitzung einberufen wurde. Nun kam es zumindest zu einer offenen Debatte über das Für und Wider, auf die die Pankower*innen nach Überzeugung der Linksfraktion einen Anspruch haben. Wir haben bereits ausführlich über die sachlichen Gründe berichtet, die im öffentlichen Interesse für eine Veränderungssperre sprechen (hier).
Durch die erneute, mehrheitliche Ablehnung der Veränderungssperre ist nun der Weg frei für den Investor. Die Möglichkeit der weiteren Einflussnahme der Öffentlichkeit ist marginalisiert. In der Debatte, der sich Grüne, CDU, FDP und AfD durch ihre wortlose Ablehnung der Vorlage bei der BVV-Tagung am 4.5. entzogen hatten, haben diese Fraktionen nun nur wenige Argumente gegen die baurechtliche Sicherung der Entwicklung der Fläche zur Sprache gebracht; und diese ließen sich von SPD und Linksfraktion entkräften.
Die wohl bemerkenswerteste Volte ist die Behauptung, der Investor sei bereit, über einen Schulstandort zu verhandeln. Genau das ist in den letzten Jahren gescheitert. Warum sollte sich das nun ändern, wenn der Grundbesitzer nicht mehr zu Verhandlungen gezwungen ist? Durch die Ablehnung der Veränderungssperre kann der Immobilienbesitzer nun machen, was er will. Warum soll er sich an blumige Zusagen gebunden fühlen? Auch wäre Vertrauen für eine Zusammenarbeit nötig – dieses Vertrauensverhältnis aufzubauen, ist dem Bezirksamt bereits unter dem Grünen-Baustadtrat Vollrad Kuhn nicht gelungen. Der Investor Christian Gérôme hat in mehreren Verfahren versucht, seine Pläne vor Gericht gegen den Bezirk durchzusetzen. Nun hat der Bezirk sogar seine juristischen Möglichkeiten größtenteils eingebüßt.
Noch am Tag der BVV-Tagung hat sich der Investor an die Bezirksverordneten gewandt und Angebote unterbreitet. Was sich darin wohlklingend als „flächensparendes Bauen“ präsentiert, sind Hochhäuser. Was er als Zielgruppe „Familien und Wohnungssuchende“ beschreibt, ist eine äußerst vage Bezeichnung derjenigen, mit denen er Geschäfte machen will. Es spricht nichts dagegen, dass die von ihm angekündigten neuen Pläne so manchen überraschen werden – diese Pläne wird er nun umsetzen können; egal, was dagegen spricht. Auch in seiner Zusicherung, mit neuen Bauanträgen drei Monate zu warten, verbirgt sich ein vergiftetes Präsent: Gérômes bisherige Planungen nahmen mehr oder weniger Rücksicht darauf, dass sie einer baurechtlichen Genehmigung bedurften. Ohne einen baurechtlichen Rahmen sind seinen Träumen keine Grenzen mehr gesetzt. In ihrer Rede zur Einbringung der Drucksache sprach Stadträtin Rona Tietje (SPD) offen aus, was Gérômes "Angebot" wirklich ist: Ein Ultimatum.
Die Bezirksstadträtin begründete noch einmal leidenschaftlich, warum es im Interesse des Bezirks ist, die Veränderungssperre letztmalig um ein Jahr zu verlängern. Der Bezirk braucht Teile der Fläche für einen Oberschulstandort. Für die Planung müsse eine Machbarkeitsuntersuchung angestrengt werden, um einen Bebauungsplan rechtssicher zu beschließen. Ohne eine Veränderungssperre können die Ziele des Bebauungsplanes – der Schulstandort und eine Grünfläche – nicht mehr vor den Vorhaben des Eigentümers geschützt werden. Tietje wies auch darauf hin, welche substanzlosen Mythen insbesondere von den Grünen öffentlich gestrickt werden. Weder der in Aufstellung befindliche Bebauungsplan noch die Veränderungssperre sehen vor, dass Wohnungsbau ausgeschlossen ist. Es gibt also keine Grundlage für den Vorwurf, Wohnungsbau verhindern zu wollen. Das vorgebliche Entgegenkommen des Immobilien-Besitzers sei mit der unverhohlenen Forderung verbunden, seinen Plänen endlich zuzustimmen. Nachdem der ehemalige Baustadtrat Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) untätig viele Jahre vergehen ließ, solle nun „endlich Bewegung“ entstehen, fragte Tietje rhetorisch und befand: „Ohne Veränderungssperre kann es wirklich sehr schnell Bewegung geben – aber eben ohne den Bezirk“. Sie bat dringlich darum, dass die Bezirksverordneten ihre Verantwortung wahrnehmen und ihr ureigenes Entscheidungsrecht – eine baurechtliche Festlegung öffentlicher Interessen nicht aufgeben.
Bezirksbürgermeister Sören Benn (DIE LINKE) ergänzte, dass es zum Profil der BVV Pankow gehöre, die Bürgerbeteiligung zu stärken. Einen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung haben die Pankowerinnen und Pankower nur, wenn die Veränderungssperre einen Bebauungsplan ermöglicht.
Besonderen Raum nahm in der folgenden Debatte die Frage des geplanten Schulstandortes ein. Die Veränderungssperre sollte dazu dienen, einen Bebauungsplan zu erlassen, der den auch von der Senatsverwaltung attestierten Bedarf an Oberschulflächen in Pankow berücksichtigt. Redner*innen von der CDU, den Grünen und der FDP begründeten ihre Position damit, dass der Bau eines Gymnasiums auch auf den Bereichen möglich sei, die dem Land Berlin gehören. Die sachliche Erwiderung von SPD und Linksfraktion war deutlich: Leichtfertig wird in Kauf genommen, dass der Bezirk auf dem jetzt nur noch zur Verfügung stehendem Areal ein Gymnasium ohne Sport- und Schulaußenflächen baut. Damit verschärft sich das hohe Defizit an solchen Anlagen in Pankow. Die Schüler*innen werden weite Wege zu ohnehin übernutzten Anlagen zurücklegen müssen. Selbst die Errichtung eines Schulgebäudes auf öffentlichem Grund und Boden ist nur möglich, wenn die vom Investor der benachbarten Flächen beabsichtigte Entwicklung das nicht verhindert! Einen Einfluss und Interessensausgleich kann es nicht geben, wenn die Veränderungssperre nicht beschlossen wird.
Ein weiterer Vorwurf der Grünen-Fraktion erwies sich als kecke Verdrehung der Tatsachen: Die Befürworter*innen der Veränderungssperre seien nicht gesprächsbereit gewesen. Fred Bordfeld erwiderte, dass der öffentliche Ort für solche Gespräche der zuständige Ausschuss ist. Dort blieben die Grünen stumm. Im Vorfeld der gestrigen Tagung gab es zudem mehrere Versuche der persönlichen Kontaktaufnahme. Mit FDP und CDU wurden Gespräche geführt. Die Grünen haben darauf nicht reagiert. Katja Ahrens (SPD) wies darauf hin, dass die Grünen sogar selbst – und unter Missachtung der Geschäftsordnung – eine Beratung zum Thema im Schulausschuss durch ihren Ausschussvorsitzenden verhindert haben. Das ist an sich schon ein handfester Verstoß gegen die Verabredungen zur gemeinsamen Arbeit der Demokrat*innen in der BVV.
Von der FDP war erwartungsgemäß nur zu hören, dass sie privaten Investor*innen gern noch viel mehr Freiheit geben möchten und die Bauabsichten Christian Gérômes unterstützen. Der Investor hätte sein Entgegenkommen signalisiert. Auch CDU und Grüne zeigten sich überzeugt, dass der Immobilienhändler, über dessen Geschäftsgebaren es auch sehr ungute Berichte gibt, blindes Vertrauen verdient. „Ich bin da hoffnungslos optimistisch“, sagte Denise Bittner, Fraktionsvorsitzende der CDU. Thomas Bohla (SPD) erinnerte daran, dass Gérôme auch gegenüber dem Bezirk bereits vertragsbrüchig wurde, als er Mieter*innen durch Sanierungsmaßnahmen verdrängte. Angesichts der jahrelangen und aktuell noch einmal verschärften Entwicklungen wirkt es weltfern, seinen Äußerungen zum Wohnungsbau Glauben zu schenken, wie es Mitglieder von CDU und Bündnis 90/Die Grünen tun. Der Investor kann durch den Wegfall der rechtlichen Grenzen seiner Planung das tun, was dem wichtigsten Maßstab im Kapitalismus, der Profitmaximierung, dient. Ohne die Veränderungssperre ist es also weitaus realistischer, wenn er Hotelhochhäuser, möblierte Appartements oder Luxus-Eigentumswohnungen an den Markt bringt. Eine Verpflichtung zur Schaffung von Mietwohnungen ist ebenso unmöglich wie die Reservierung eines Anteils im bezahlbaren Preissegment. „All das wollen Sie aufgeben!“, mahnte Fred Bordfeld, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Linksfraktion.
Die Grünen zeigten sich in der Debatte mehr von „Selbstbeschwörungen“ (so Rona Tietje) und Befindlichkeiten beseelt, als an der Wahrheit orientiert. Konfrontiert mit Fakten, zum Beispiel ihren eigenen Beschlüssen der Vergangenheit, reagierten sie bisweilen unwissend – sachlich fundierte Kritik bezeichneten sie als persönliche Beschimpfung. Allein dieses unparlamentarische und unprofessionelle Verhalten wird die Zukunft der Arbeit in der BVV Pankow schwer belasten.
Erwartungsgemäß kam es zum schlimmen Ende: Wieder stimmten Bündnis 90/Die Grünen, CDU, AfD und FDP gegen die Veränderungssperre. Verloren gegeben haben die Bezirksverordneten dieser Parteien damit auch die Pläne für einen Grünzug. Sie verzögern, selbst wenn es überhaupt noch dazu kommen könnte, den Bau eines Schulgebäudes um mehrere Jahre. Zusätzlich zu diesen Schäden für das Gemeinwesen schenken Bündnis 90/Die Grünen, CDU, AfD und FDP dem Investor auch noch eine Befreiung von den Kosten, die der Stadt durch seine Bautätigkeit entstehen. Ein Reigen von Geschenken für einen Immobilienspekulanten, der billiges Baugelände gekauft hat und nun über wertvolles innerstädtisches Bauland verfügt. Es ist uns unverständlich, wie eine Mehrheit von Bezirksverordneten in der BVV Pankow zustande kommen kann, die ihren Auftrag, im Interesse der Pankower*innen handeln zu sollen, komplett vernachlässigen. Mit den wenigen Mitteln, die uns nun nur noch zur Verfügung stehen, wird die Linksfraktion weiterhin versuchen, den Schaden dieser falschen Entscheidung möglichst zu begrenzen.
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