Bedarfsermittlung von Schulplätzen für autistische Kinder - Kleinklassen Autismus in Pankow ermöglichen

Drs. IX-0649

Antrag der LINKSFRAKTION, der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der FDP


Das Bezirksamt wird ersucht Zahlen zu autistischen Kindern in Pankow zu erheben, die derzeit nicht oder verkürzt beschult werden. In die Bedarfserhebung sind alle Fälle von verkürzter oder gar keiner Beschulung einzubeziehen, die nach §63 Abs. 2 oder nach §41 Abs. 3a Berliner Schulgesetz (SchulG Berlin) entschieden wurden. Es sind ausschließlich Kinder zu erfassen, die eine psychiatrische Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung erhalten haben - unter Wahrung der Kombinationsgebote und -verbote bei Förderschwerpunkten.

Die Bedarfserhebung ist regelmäßig zu wiederholen und in Kooperation mit

  • dem Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBUZ) Pankow,
  • dem Teilhabefachdienst Jugend,
  • dem Regional-Sozialpädagogischen Dienst (RSD) und
  • der Schnittstelle Schule und Jugend in der Verwaltung des Jugendamtes

durchzuführen, um die Perspektiven und Erfahrungen in Zuständigkeit und Umsetzung der jeweiligen Fachgebiete der Ämter einzubeziehen.

Das Bezirksamt wird mithin ersucht mögliche weitere Maßnahmen zur Prävention von Schulzeitverkürzungen oder Schulausschluss autistischer Kinder aus den Ergebnissen der Bedarfserhebung und Begründung entsprechender Maßnahmen von Seiten der Schulen abzuleiten. Die Ergebnisse der Bedarfserhebung sind nach den Kriterien 1) keine Beschulung, 2) verkürzte Beschulung und 3) Versagung von ergänzender Förderung und Betreuung/Hortunterbringung zu differenzieren und mögliche weitere Maßnahmen zur Prävention sind den zuständigen Ausschüssen Kinder- und Jugendhilfe sowie Schule und Sport vorzustellen.

Auf Grundlage der Ergebnisse der Bedarfserhebung wird das Bezirksamt ersucht „Kleinklassen Autismus“ für die Beschulung von autistischen Kindern in Pankow einzurichten, die nicht im regulären Klassenverband staatlicher Schulen beschult werden können.

Die Kapazitäten der Pankower Schulen sind zu prüfen und die Kleinklassen Autismus vorzugsweise in den Räumlichkeiten der Schulen einzurichten. Sollten nicht ausreichend Kapazitäten vorhanden sein, ist die Kooperation mit freien Trägern von Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen, Kindertagesstätten und Kinderläden sowie weiteren möglichen Institutionen zu suchen, die eine Kleinklasse räumlich aufnehmen können. Auch Räumlichkeiten bezirkseigener Liegenschaften sind auf Verfügbarkeit zur Beschulung autistischer Kinder zu prüfen und zu nutzen.

Das Berliner Schulgesetz verpflichtet die Schulen dazu bestmögliche Lernvoraussetzungen für alle Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Daraus entsteht für die Schulen ein Anspruch auf entsprechende Ressourcen in der Zumessung von Lehrkräften und pädagogischen Personal. Das Bezirksamt wird deshalb weiterhin ersucht sich gegenüber der Landesebene bzw. der Berliner Schulaufsicht dafür einzusetzen, ggf. notwendige zusätzliche Bedarfe der Schulen abzudecken.

Einreichende:  LINKSFRAKTION: BV Maria Bigos, BV Paul Schlüter, BV Maximilian Schirmer
Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: BV Karsten Dirk Gloger, BV Helene Bond, BV Almuth Tharan, BV Hannah Wettig
Gruppe der FDP: BV Oliver Simon, BV Dr. Thomas Enge

Begründung:

Autistische Kinder haben das gleiche Recht auf Beschulung und Bildung wie nicht-autistische Kinder. Auch für autistische Kinder gilt die Schulpflicht und das Menschenrecht auf Schule und qualitativ hochwertige Bildung. Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2021 klargestellt, alle Kinder haben ein Recht auf Bildung – Ausnahmen gibt es nicht (vgl. 1 BvR 971/21 und 1 BvR 1069/21). Das Urteil beruhte zwar auf einer Verfassungsbeschwerde zu Schulschließungen während der Pandemie, gleichzeitig aber stellte die Urteilsfindung anerkennend und unmissverständlich das grundgesetzlich festgeschriebene Recht auf Bildung fest (vgl. Friedrich Ebert Stiftung (07.01.2022): Recht auf schulische Bildung: Die Schulschließungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist wegweisend). Flankierend zum Grundgesetz führte das Bundesverfassungsgericht die UN-Kinderrechtskonvention, die UN-Behindertenkonvention, die EU-Grundrechtecharta und das Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention an.

Auch Art. 20 Abs. 1 der Berliner Verfassung enthält dieses Recht. Das SchulG Berlin verweist auf dieses Recht in §2. Der Staat steht gleichermaßen in der Verantwortung, autistische Kinder gleichberechtigt und somit diskriminierungsfrei zu beschulen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Sowohl nach der UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) als auch dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist den besonderen Bedürfnissen von Kindern Rechnung zu tragen. Trotz allem werden regelmäßig Fälle von autistischen Kindern bekannt, bei denen die Schulzeit verkürzt oder ausgesetzt wird. Ausschlüsse erfolgen häufig ohne rechtliche Grundlage durch Schulen oder ausreichende Begründung gegenüber den Eltern, wie auch die Berliner Elterninitiative ausgeschlossener autistischer Kinder berichtet (Bündnis schulische Inklusion).

Ein relevanter Anteil autistischer Kinder kann im normalen Klassenverband lernen. Wenn die Beschulung scheitert, liegt das Problem nicht beim autistischen Kind oder dessen Eltern, sondern eher an falschen Rahmenbedingungen, dem Infragestellen der Diagnose, das Verweigern von Nachteilsausgleichen, einer Schuldzuweisung an die Eltern und ihre Erziehung, an einer fehlenden Kommunikation mit den Eltern und zuständigen Stellen, an einer mangelhaften Aufklärung des Lehrkörpers und etwaigen Einzelfallhelfenden oder an einer einseitigen Perspektive auf das Thema. Primär wird aber die Entwicklung und das Verhalten des autistischen Kindes als Problem pauschalisiert und die pädagogischen Maßnahmen, wie sie §62 SchulG Berlin vorrangig fordert, nicht ausgeschöpft. Die Kompensationsleistungen der Kinder werden genauso übersehen wie ihr Potential und die individuellen Lebensumstände ausgeklammert. Nicht die autistischen Kinder sind das Problem, sondern das sich nicht anpassende Umfeld.

Sind Einzelfälle besonders komplex, sollte eine andere Beschulungsform bzw. eine Beschulung in gemeinsamer Verantwortung von Schulsystem und Jugend- bzw. Eingliederungshilfe sicherlich in Betracht gezogen werden. Ein pauschaler Ausschluss von Bildung in Beschulungsform ist damit aber nicht gemeint. Der Staat muss zunächst alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben und die Beschulung von Schülerinnen und Schüler darf nach §41 Abs. 3a des Berliner Schulgesetzes im Allgemeinen nur aus triftigem Grund und nur unter bestimmten Voraussetzungen ganz oder teilweise ruhen. Gleiches gilt für Ausschlüsse und Suspendierungen in Form der Ordnungsmaßnahmen nach §63 Abs. 2 SchulG Berlin; ein Paragraph auf den vermehrt zugegriffen wird. Die Entscheidung zum ganzen oder teilweisen Aussetzen der Beschulung muss unter anderem durch psychologische Gutachten begleitet und begründet werden. Genauso zwingend ist ein verbindliches Teilhabeplanverfahren (Kap 2-4 Teil 1 SGB IX für alle Berliner Jugendämter unabhängig der Behinderungsart) zur Klärung gemeinsamer Verantwortung.

Das ganze oder teilweise Ruhen der Beschulung hat Auswirkungen auf das Familienleben und auf die gesellschaftliche Teilhabe mit hohen wirtschaftlichen Folgekosten. Trotz Verpflichtungen des Staates, auch zur gemeinsamen Verantwortung von Schulsystem und Jugend- bzw. Eingliederungshilfe in Schule, werden die Eltern allein gelassen, sind überlastet, kommen ihren weiteren Pflichten wie bspw. der Lohnarbeit nicht mehr ausreichend nach. Die finanzielle Situation wird durch selbstorganisierte Kompensationsleistungen belastet und Armut begünstigt.

Eine Überlastungs- und Überforderungssituation kann und hatte in Pankow bereits in einigen Fälle die Folge, dass Kinder in Obhut genommen werden mussten, weil das System versagt, nicht die Eltern. Nicht nur Schulen, sondern auch stationäre Heimunterbringungen sind in Pankow überfüllt und warten mit Tagespauschalen bis zu 300-450 Euro auf. Eine teilhaberechtliche autismusspezifische Assistenz zur Teilhabe an Bildung würde diese Kosten deutlich reduzieren. Das Teilhaberecht verpflichtet zudem dazu solche Maßnahmen zu ergreifen, es wird dieser Pflicht aber nicht entsprochen. In der Folge werden Kinder nicht nur aus ihren Familien, sondern auch aus ihrem gewohnten Lebensumfeld in Pankow gerissen und in andere Bundesländer verteilt. Eine solche Veränderung der Lebensumstände ist insbesondere für autistische Kinder menschenrechtlich nicht tragbar.

Dem kann durch die Einrichtung von Kleinklassen Autismus Abhilfe geschaffen werden. Denn Kleinklassen Autismus benötigen einen Raum für maximal sieben Kinder. Die kleine Anzahl der Kinder ermöglicht eine bessere Beschulung durch eine autismusfreundliche Organisation(sstruktur) am Beschlungsort (z.B. andere Pausenzeiten, sowohl innen als auch im Außengelände, akustische Anpassungen im Gebäude, Visualisierung, autismusfreundliche Rahmenbedingungen, Anpassung des Umfeldes an die Kinder u.W.). Eine Konkurrenzsituation zu nicht-autistischen Kindern entsteht nicht, da autistische Kinder beschult werden müssen, ihnen die Beschulung aber versagt wird. Sie sind in den Gesamtkapazitätsberechnungen einkalkuliert. Es geht um die Umsetzung der Schulpflicht auch für autistische Kinder, wie sie gesetzlich vorgeschrieben ist.

Kleinklassen Autismus ist ein pädagogisches Konzept aus dem Förderschwerpunkt „Autismus und geistige Entwicklung (gE)“. Die Lerngruppen werden oftmals jahrgangsübergreifend unterrichtet. Jeder Kleinklasse ist ein Pädagog:innen-Team, das aus einem bzw. einer Sonderpädagogen:in, einer Pädagogischen Unterrichtshilfe sowie einem bzw. einer Facherzieher:in für Integration zugeteilt. In Einzelfällen kommt eine individualisierte Assistenz hinzu um das Recht auf Schule abzusichern. Die Schülerinnen und Schüler werden nach verschiedenen Rahmenlehrplänen  und entsprechenden Niveaustufen unterrichtet und gezielt gefördert (sowohl zielgleich als auch zieldifferent). Das Arbeiten im Team ermöglicht es, auf die besonderen und unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen individuell einzugehen. Die Aufnahme in eine solche Kleinklasse erfolgt ausschließlich nach einer ausführlichen Diagnostik über die zuständige Schulaufsicht und nach gemeinsamer, durch das übergeordnete Teilhaberecht vorgegebener Teilhabekonferenz. Letzteres sah die UN-BRK, in Folge das BTHG explizit zur Zusammenführung gemeinsamer Verantwortung zur Sicherstellung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe auch für autistische Kinder vor. Das Schulrecht ist dem untergeordnet, die Berliner Jugendämter beteiligen alle an einem Tisch, koordinieren und stellen einen entsprechenden Plan auf. Das sind die verbindlichen und abweichungsfesten Menschenrechte seit Einführung des BTHG dass den Schulbereich über §22 SGB IX verpflichtend einzubinden hat.

Die genannte und differenzierte Bedarfsanalyse ist der Einrichtung von Kleinklassen Autismus zwingend vorangestellt, da die Fallzahlen aufgrund der Kombinationsgebote und -verbote derzeit zu unspezifisch erhoben werden. Autistische Kinder können weitere Bedarfe haben, die bspw. den Förderschwerpunkt gE (geistige Entwicklung) entsprechen. Der Förderschwerpunkt „Autismus“ ist aber mit dem Förderschwerpunkt „gE“ formalrechtlich nicht kombinierbar. Es muss sich für einen Förderschwerpunkt entschieden werden. Oftmals wird ein autistisches Kind, das auch Förderungsbedarfe in geistiger Entwicklung hat, in „gE“ geschlüsselt. Die Autismus-Diagnose verschwindet infolgedessen in der Statistik und damit auch die Erhebung, auf welcher Grundlage ein Schulzeitverkürzung oder Ausschluss aus dem Schulverband erfolgte. Für die Bedarfsanalyse ist kein neues oder zusätzliches Personal notwendig. In der Verwaltung des Jugendamtes sind in der Schnittstelle Schule und Jugend bereits personelle Ressourcen vorhanden.